«Ich bin froh, dass dieser Seich vorbei ist»
Ramon Zenhäusern, was aufgefallen
ist in diesem Winter: Die jungen Slalomkünstler scheinen ohne Skrupel
zu fahren. Einverstanden?
Das ist so, aber die Erkenntnis ist nicht ganz neu. Das weiss man auch schon seit einem oder zwei Jahren. Was man sagen kann: Jetzt haben diese Jungs den Durchbruch geschafft. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Masse, wir reden vorab von zwei Fahrern, den beiden Norwegern Lucas Braathen und Atle Lie
McGrath.
In zehn Rennen gab es in diesem Weltcupwinter acht verschiedene Sieger. So sehr wurde die Slalomwelt noch nie auf den Kopf gestellt.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Das gab es in diesem krassen Ausmass tatsächlich noch nie, das ist sehr speziell. Es könnte damit zusammenhängen,
dass die Trainingsbedingungen überall immer besser werden, davon profitieren auch andere Nationen, selbst Spanier mittlerweile. Und es ist womöglich auch das Resultat einer ungeheuer breiten Weltspitze in dieser Spezialdisziplin,
in der alles sehr sehr eng zusammengerückt ist. Das sagen wir ja bereits seit Längerem, aber in diesem Weltcupwinter kam das für alle sichtbar zum Ausdruck. Durch die enorme Breite ganz vorne wird alles noch weiter auf die Spitze getrieben, was den Absturz und die Inkonstanz auch wahrscheinlicher macht. Slalom ist und bleibt die verrückteste Disziplin, eine Gratwanderung.
Die vergleichbaren Zeiten wie im
Tennis, wo Djokovic, Nadal und Federer mehr oder weniger alles unter
sich ausgemacht haben, scheinen im
Slalom vorbei zu sein. Kann man sogar von einer Zeitenwende sprechen?
Schwer zu sagen, ob das so weitergehen wird oder ob dieser Winter eine Ausnahme darstellt. Das werden wir erst noch sehen. Die Tendenz dürfte in die Richtung gehen, die Sie ansprechen, wenn auch vielleicht nicht immer derart krass. Ich glaube aber, es ist weiterhin möglich, in einer Saison mehrere Siege oder Podestplätze einzufahren.
Sie selber waren nie ein Fahrer, der
ohne Skrupel in ein Rennen stieg. In
diesem Winter aber gab es zumindest
von aussen betrachtet oft einen auffallend verhaltenen Zenhäusern zu sehen. Wie sah es in Ihrem Inneren aus?
Ich möchte nicht, dass es sich wie eine Ausrede anhört, aber ich habe die Folgen des Trainingssturzes kurz vor Saisonbeginn komplett unterschätzt. Das hat mich die ganze Saison hindurch geprägt. Ich kann heute noch keinen Pullover oder keine Jacke anziehen, ohne dass ich die Schulterverletzung, die ich mir im November zugezogen hatte,
nicht spüre. Auch im Bett ist es nicht anders, ich empfinde die Folgen jede Nacht. Aber ich hätte trotzdem bessere
Resultate einfahren können.
War eine Pause je ein Thema?
Didier Plaschy hatte mal vorgeschlagen, die Verletzung erst mal ausheilen zu lassen, wenn nötig die ganze Saison. Aber nein, das kam für mich nicht infrage.
Hand aufs Herz, wie schwierig war
diese Saison?
Sehr schwierig. So was habe ich in meiner Karriere noch nie erlebt, immer war es bislang aufwärtsgegangen. Jetzt muss ich am eigenen Leib erfahren, dass auch Rückschläge dazugehören, und ich muss lernen, wie man damit umgeht. Im Dezember kurz vor dem Rennen in Madonna di Campiglio schoss es mir in den Rücken, ich konnte kaum mehr laufen. Im Februar in Garmisch-Partenkirchen war ich nach dem ersten Lauf Zweiter, zog mir dann aber beim Sturz im zweiten
Durchgang am Oberschenkel und an der Hüfte starke Prellungen zu, überall blaue Flecken. Und in den letzten zwei Rennen kam bei mir noch Corona hinzu. Es war wie verhext. Aber die grösste Last war die Schulter.
Wie sehr hat Sie Corona erwischt?
Es war keine Kleinigkeit, es hat mich schon richtig erwischt. Beim Rennen in Flachau fühlte ich mich richtig schlapp.
Es war mehr als eine Erkältung, ich hatte Fieber, Halsweh, keinen Geruchssinn mehr. Ich zog mich eine Woche ins Chalet nach Bürchen zurück, lag bloss herum und konnte ein paar Nächte kaum schlafen. Ich hatte geschwitzt wie verrückt. Eine Vorbereitung für ein Weltcupfinale sieht anders aus.
Sie sagten vorhin, Sie hätten
die Schulterverletzung unterschätzt.
Wieso das?
Ich hatte mir vor zwei Jahren den Daumen gebrochen, was mich rennfahrerisch aber nicht störte. Im Gegenteil, es war meine beste Saison. Ich vermochte das Handicap zu verdrängen. Aber dieser Fall hier erwies sich als viel komplexer.
Anfangs machte ich auf «harter Indianer» und redete mir das Problem klein. Doch es blieb nicht bei der Verletzung
allein, denn viele andere Muskeln sprangen ein und versuchten zu kompensieren, weil ich die verletzte Stelle immer wieder instinktiv schützen wollte. Da spielten alle mit, der Bizeps und der Trizeps in den Oberarmen, der Delta- und der Schultermuskel, alles pickelhart und verspannt mit der Zeit. Fast ein Viertel meines Körpers war mit Kompensationen beschäftigt und deshalb nicht in Harmonie, nur um die Schulter zu entlasten. Ich konnte stabil fahren, das schon, aber nicht befreit. Im Grunde genommen fuhr ich in einer Schutzhaltung.
Gab es keinen Ausweg?
Ich hatte keine bewussten Schmerzen und seitens der Ärzte hiess es, noch mehr könne nicht kaputtgehen. Deshalb gönnte ich meiner Schulter nie Ruhe, was im Nachhinein wohl ein Fehler war. Aber das Unterbewusstsein fuhr
halt auch mit. Es war nicht bereit, in die Zone der Kompromisslosigkeit zu gehen. Slalom ist ein permanenter Balanceakt, er ist eine Art Spielerei mit Risiko, aber darauf wollte oder konnte sich mein Unterbewusstsein nicht einlassen.
Ich ging davon aus, dass ich die Schulter im Slalom nicht sonderlich bräuchte, aber das erwies sich als Trugschluss.
Vor allem, wenn ich mir auf Videoaufnahmen selber zuschaue.
Was für einen Ramon Zenhäusern
haben Sie auf den Videos gesehen?
Im ORF redete Skiexperte Thomas Sykora wieder von der Schulter und ich dachte: Hört doch endlich auf, die Schulter stört mich nicht mehr.
Ich wollte es aus meinem Kopf haben. Doch als ich meinen Lauf genauer analysiert und insbesondere darauf geachtet hatte, was meine verletzte rechte und meine gesunde linke Schulter machen, war es offensichtlich. Es war brutal eindrücklich zu sehen, wie in der rechten null Bewegung drin war. Das ganze Ausbalancieren lief allein
über die linke Schulter.
Was hatte das für Auswirkungen?
Das heisst, der Zenhäusern fuhr zwar sauber, aber er wagte sich nicht in die Zonen vor, wo das Limit anfängt. Und dahin muss man, will man aufs Podest oder gewinnen, alle Konkurrenten pushen und pushen. Denn wer am Limit fährt, muss zuweilen auch ausgleichen, indem er beispielsweise die Hand ausfährt, was ich unbewusst offensichtlich scheute. Deshalb fuhr ich oft zu rund.
Wäre das nicht ein Fall für Mentaltraining gewesen, Sie arbeiten in
diesem Bereich ansonsten mit einem
Spezialisten zusammen?
Ich habe den Mentaltrainer das eine oder andere Mal beigezogen, aber ich sagte ja, ich habe das Ganze unterschätzt. Ich wusste von Anfang an, dass eine Schulterverletzung ein halbes Jahr oder auch neun Monate dauern kann.
Ich probierte den Fall zu verdrängen, ich wollte dem gar kein Gewicht geben.
Sie haben in einem früheren WBInterview eine Operation angedeutet. Ist das aktuell?
Anfang April habe ich einen Termin und lasse ein neues MRI-Bild machen. Damals war eh alles eingeblutet gewesen,
was eine genaue Diagnose erschwert hatte. Dann erst werden wir über mögliche Varianten entscheiden. Ich hoffe schon, dass ich mich keiner Operation unterziehen muss, weil ich drei Monate ausser Gefecht wäre. Aber wenn es denn sein muss, dann muss es sein und würde sofort durchgeführt werden. Was ich sicher machen werde, ist, der Schulter und all den betroffenen Muskeln Zeit geben und mehr Beachtung schenken. Überhaupt werde ich das in Zukunft in einem ähnlichen Fall machen.
Wie erleichtert sind Sie, dass die
Saison vorbei ist?
Ich bin definitiv enorm froh darüber, dass dieser Seich durch ist. Ich hatte mich sehr auf diesen Moment gefreut.
Ich hatte an gewissen Rennen teilweise auch gute Ausgangslagen, aber letztlich war es wie ein Albtraum, aus dem ich nun endlich erwachen kann.
Sie waren im letzten Frühjahr in der
Vorbereitung erstmals neue Wege gegangen und hatten sich am modernen
Hochleistungszentrum OYM nahe bei
Zug vorbereitet. Bleibt das so?
Ich habe das Gefühl, dass der Trainingsunfall gerade wegen meiner verbesserten Fitness nicht schlimmer ausgegangen war. Die meisten, die das Video des Sturzes gesehen haben, staunten, dass nicht auch meine Knie in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Das wäre dann für einen derart grossen Fahrer wie mich definitiv schlecht gewesen.
Ramon Zenhäusern, haben Sie den
Höhepunkt hinter sich?
Ich habe schon viel erreicht, aber erst die Zukunft wird das zeigen. Jede Spitzensportlerin und jeder Spitzensportler hat schlechte Phasen, das gehört dazu. Im Slalom beispielsweise mussten das auch Daniel Yule, Luca Aerni oder Giuliano Razzoli durchmachen. Selbst der begnadete Clément Noël kam im Weltcup überhaupt nicht so weit, wie man nach seinem ersten Sieg gedacht hatte. Ich habe jetzt mit fast 30 Jahren die erste schlechte Saison meiner ganzen Karriere hinter mir, mehr ist eigentlich nicht passiert. Ein Weltuntergang sieht anders aus.
Sie arbeiteten auf diesen Winter hin
mit neuem Material. Kann es sein,
dass nicht bloss die Verletzung das
Problem war?
Einen genauen Rückschluss habe ich aufgrund der gesundheitlichen Probleme nicht, das stimmt. Aber beim Material geht es in die richtige Richtung, das neue ist besser. Ein Tief gehört zum Sport dazu, genauso wie die Stimmen, die einen Athleten abschreiben wollen.
Das Skirennfahren habe ich jedenfalls nicht verlernt, technisch fahre ich besser als die letzten Jahre. Im Übrigen hat es bereits früher geheissen, dass ich es nie an die Spitze schaffen werde.