«Ich bin immer auf einer Gratwanderung»
Ramon Zenhäusern ist die Nummer drei der Slalom-Welt. Was sagt er über den neuen Trainingsweg? Und wo sind eigentlich seine Ski?
Interview: Roman Lareida
Ramon Zenhäusern, dieser Tage finden noch die Schweizer Meisterschaften statt. Nach diesem letzten Rennen nehmen Sie die Ski nicht mehr hervor, oder?
Doch, doch. Bis Mitte April bleibe ich dran. Ich nutze lieber das Winterende für das Training und die Tests, statt bereits im Juli wieder auf den Schnee zu gehen. Meine Devise lautet: So lange wie möglich im April dranbleiben, und so spät wie möglich im Sommer zurückkehren.
Wie muss man sich die Zeit auf den Ski nach den Rennen denn vorstellen? Was probieren Sie aus?
Am Montag gehe ich nach Tignes, wo ich mit Rossignol zum Beispiel neue Modelle oder Skiplatten austesten werde. Auch Clément Noël wird da sein, vielleicht auch Henrik Kristoffersen. Ich fahre beispielsweise seit sechs, sieben Jahren dasselbe Skimodell. Ich habe nie was anderes getestet. Ich will spüren, wie ich mit einem anderen Modell zurechtkomme. Zudem fahre ich eine Platte, die heute nicht mehr fabriziert wird. Auch wenn ich davon noch ein paar im Keller habe, will ich mal was anderes versuchen.
Fühlen Sie sich nicht ausgelaugt?
Klar spürt man eine gewisse Müdigkeit, auch die mentale Anstrengung kostet ja viel Energie. Aber im Fussball, im Tennis oder bald sogar im Eishockey spielen sie das ganze Jahr hindurch. Ähnliches sollte ein Skirennfahrer doch auch imstande sein, oder?
Was spricht denn gegen ein Schneetraining im Juli?
Jetzt bin ich noch im Winterflow, und die Verhältnisse sind gut. Aufwand und Ertrag im Hochsommer stimmen für mich nicht überein. Um 5.00 Uhr aufstehen, nach zwei Stunden stehe ich im Pflotsch, es ist warm, du wirst schneller müde, und das erste Rennen ist erst im November. Das macht in meinen Augen keinen Sinn. Zu wenig effizient.
Haben Sie ein Prinzip, wie lange Sie die Ski nicht mehr sehen wollen?
Früher mit Didier Plaschy gab es Jahre, da verstrichen keine zwei, drei Wochen, ohne wieder auf den Ski gestanden zu sein. Vor Mitte oder Ende August gehe ich nicht auf den Gletscher. Das sind also rund dreieinhalb bis vier Monate.
Gehen Sie nie in den Keller und schauen ein bisschen zu Ihren Ski? So wie die Biathleten ein ausgesprochen liebevolles Verhältnis zu ihrem Gewehr haben?
Die Ski sind gar nicht bei mir. Sie sind das ganze Jahr hindurch bei meinem Servicemann (Red. der Südtiroler Wilhelm «Willy» Breitenberger). Meine Ski sind für ihn schon fast seine «Kinder», entsprechend hütet er sie auch. Ich habe bereits grosse Mühe, überhaupt ein Paar zu bekommen, möchte ich zwischendurch eines. (lacht)
Wie viele Modelle hat Ramon Zenhäusern?
Genau weiss ich das nicht. Aber es sind zwischen fünfzehn und zwanzig. Also so viele wie Henrik (Red. Kristoffersen) habe ich nicht. Ein Bauer im österreichischen Hinterreit erzählte uns, der Henrik sei mal mit 70 Paar zum Training gekommen. Er meinte süffisant, mit 50 zu viel.
Sie sind mittlerweile die SlalomNummer drei der Welt. Was halten Sie davon?
Es war meine beste Weltcupsaison bisher. Klar, dass ich damit zufrieden bin. Umso mehr wir uns immer auf einer Gratwanderung bewegen. Das vergisst man oft. Schauen Sie nur Daniel Yule in diesem Winter an. Im Vorjahr hat er dreimal gewonnen, in diesem Winter war er gerade einmal in den Top 5. Dabei ist er immer noch derselbe Fahrer. Es gibt so viele gute Skirennfahrer, etwa Dave Ryding,Alex Vinatzer oder Alexander Choroschilow, sie alle kamen in diesem Weltcupjahr kaum in die Top 5. Nein, nichts ist selbstverständlich im Slalom. Ich selber habe das auch schon spüren müssen. Fliegst du zweimal raus, hast du das nächste Mal das Gefühl, du könntest nicht mehr Slalom fahren.
Sie erlebten fast eine Saison ohne Ausfall, dann passierte es im elften und letzten Rennen beim Weltcupfinale auf der Lenzerheide.
Vierter in der Slalom-Wertung wollte ich nicht werden, das hätte mich ziemlich geärgert. Ich war bereits 2019 und 2020 als Vierter knapp nicht auf dem Podest. Ich wusste vor dem Rennen, dass ich Zweiter oder Dritter werde, so gut wie noch nie. Es machte also keinen grossen Unterschied. Ich gab Vollgas und es ging nicht auf.
Sie haben sich jedes Jahr gesteigert und sind nun Dritter. Dann sind Sie rein rechnerisch 2023 der weltbeste Slalomfahrer, nicht?
Genau. Wenn es denn nur so weitergehen würde…
Sie haben Ende Januar gegenüber dem «Walliser Boten» gesagt, die Trainer seien in Schladming nach Ihrem fünften Platz nicht zufrieden gewesen. Wie gehen Sie mit dieser Erwartungshaltung um, wenn selbst ein solcher Rang fünf nicht mehr reicht?
Ich erinnere mich, als ich vor Jahren in Adelboden als bester Schweizer 22. wurde. Es gab damals einen Riesenrummel, in den Zeitungen gab es ganze Seiten über mich. So ist der Sport und so verändern sich die Erwartungen.
Ihre Trainer sollen offenbar die Meinung vertreten, dass, wenn Sie in den Rennen so fahren würden wie in den Trainings, alle anderen keine Chance hätten.
Was soll ich da sagen? Es ist ja schön, wenn sie das so sehen und mein Potenzial so einschätzen. Trainingsweltmeister gibt es viele.
Sie begannen die Saison im Dezember in Alta Badia gleich mit einem Sieg. Wir dachten…
… dass ich gleich durchstarten würde?
Sie sagen es. Also haben Sie das auch so gedacht? Durchstarten?
Was heisst das schon? Man kann sich ja nicht gegen alle Gedanken wehren. Klar geht einem dies und das durch den Kopf. Der richtige Umgang mit Emotionen gehört auch zu einem Lernprozess. Tatsache ist, dass mich der Sieg emotional sehr bewegt hatte. Die Gedanken im Griff zu haben, ist wichtig. Am Tag nach dem Rennen fand ja in Madonna di Campiglio schon der zweite Slalom statt. Die Emotionen erst mal rauslassen oder fokussiert und konzentriert bleiben?
Sie gelten vom Wesen her als vorsichtiger Mensch, kein Zocker. Sie haben in einem WB-Interview mal gesagt, Sie müssten lernen, zuweilen über den eigenen Schatten zu springen. Hat der Sieg Sie eher gehemmt statt beflügelt?
Vielleicht. Ich habe daraus aber wieder lernen können. Alles ist Prozess. Aber man darfs auch nicht übertreiben. Ich war in Madonna nach dem ersten Lauf Zweiter. Im zweiten Durchgang fasste ich ausgangs Steilhang einen Schlag und verlor bis ins Ziel Tempo – 13. statt ein Spitzenplatz. Ohne diesen einen Schlag genau vor dem flachen Schlussabschnitt würden wir hier anders reden.
Der Slalom-Gewinner 2020/21 heisst Marco Schwarz. Hand aufs Herz: Hätten Sie mit ihm gerechnet?
Hand aufs Herz: Nein.
Weshalb nicht?
Er macht nichts Spezielles, er fährt ruhig, macht keine Bewegung zu viel. Das vermittelt auf den ersten Blick ein falsches Bild. Aber er ist unerhört präzis und stabil. Das ist schon beeindruckend.
Sie gehen ab Ende April in der Vorbereitung neue Wege. Und zwar legen Sie Ihr Training in die Hände von OYM («On your marks») in Cham bei Zug. Der Mann hinter dem Projekt ist der Präsident des EV Zug. Dabei handelt es sich um ein modernes, hoch spezialisiertes und interdisziplinäres Athletenzentrum, wo auch geforscht wird. Wie kam es dazu?
Ich hatte schon vor einem Jahr Kontakt mit den Leuten vom OYM. Ich bin zwar ein Mensch, der intuitiv funktioniert. Also eigentlich das Gegenteil vom wissenschaftlichen Ansatz. Ich bin sehr gespannt. Es geht ja nicht bloss ums Training, sondern auch um Prävention, Ernährung und Rehabilitation.
Das OYM ist neu, Sie sind einer der Ersten aus dem Skirennsport, die sich diesem Zentrum anvertrauten. Was versprechen Sie sich davon?
Ich sehe diesen Versuch der Leistungsmaximierung als weiteren Puzzlestein auf dem Weg zu meinem Ziel. Ich werde das ganze Jahr vom OYM betreut. Ich bin immer offen für Neues. Das ist eine neue Herangehensweise, ein neuer Anreiz, ein neues Umfeld. Ich denke, auch das tut nach Jahren gut.
Heisst das, Sie leben neu dort?
Von Ende April bis zum Schneetraining gegen Ende August werde ich weitgehend in Cham sein. Zweimal am Tag habe ich dort einen Privattrainer. Der Rest ergibt sich perfekt. Ich werde häufig ich bei meiner Partnerin logieren, sie wohnt bloss zwanzig Autominuten vom OYM entfernt. Auch Sponsorenanlässe habe ich viele in der Deutschschweiz, und meine Schwester mit ihrer Familie lebt auch nicht weit weg. Ich werde nicht mehr so oft im Oberwallis sein. Schade.