«Auch mit einem gesunden Körper ist eine derart rasche Rückkehr keine Selbstverständlichkeit»
Ramon Zenhäusern war unten und ist nun wieder oben. Was machte ihn langsam, was macht ihn schnell? Ein Blick auf die Hintergründe.
Das Familienglück ist leicht getrübt. Vater Peter Zenhäusern liegt zu Hause flach, ein Skiunfall zwingt ihn zu Homeoffice, er wird monatelang ausfallen. Besser er als der Sohn, versuchte er am Tag vor dem Rennen zu witzeln, ohne dabei hörbar gelacht zu haben. Der Wochenend-Sieg beim Weltcupslalom in Chamonix von Ramon Zenhäusern so kurz vor den Weltmeisterschaften dürfte immerhin dafür gesorgt haben, dass Papas Laune trotz Reduzierung und Immobilität wieder schlagartig besser geworden ist. Dafür war die Mama Bea beim grossen Comeback vor Ort, wie so viele andere Walliser Skifans im nahegelegenen Chamonix. Am Abend gab es im Carnotzet zu Hause dann noch eine kleine Feier. Beim Blick in den Zielraum muss der Mutter warm ums Herz geworden sein. Die Skistöcke flogen vor lauter Freude durch die Luft, den Blick hatte Zenhäusern gegen den Himmel gerichtet, so als ob ihm das soeben Geschehene unwirklich schien, er strahlte über ganze Gesicht. «Was für eine Befreiung, wunderschön. Seit mehr als zwei Jahren habe ich darauf gewartet, durchs Ziel zu fahren und in Führung zu liegen», sagt er.
«Ich war nervös vor dem zweiten Lauf, denn ich wusste nicht so recht, ob ich überall Vollgas oder an zwei, drei heiklen Stellen mit Kopf fahren soll. Die perfekte Mischung ist mir gelungen. Das befriedigt mich enorm.» Zenhäusern war nach dem ersten Lauf mit einem Rückstand von 0,15 Sekunden Zweiter, der führende Franzose Clément Noël schied bei seinem Heimrennen im zweiten Durchgang aus. Bei der Zwischenzeit jedoch lag er hinter dem 30-jährigen Visper.
Von Nummer 25 auf 4
Damit hat Zenhäusern in einem Weltcup-Spezialslalom seinen neunten Podestplatz und mittlerweile dritten Sieg geschafft. Zweimal hatte er bereits in Alta Badia (Dezember 2020) und Kranjska Gora (März 2019) gewonnen – viermal wurde er bislang Zweiter und zweimal Dritter. Seine Rückkehr in dieser Saison ist verblüffend, war er am Anfang doch noch weit weg gewesen von den Besten. Eine Schulterverletzung hatte sein Fahrsystem im letzten Winter aus dem Gleichgewicht gebracht, die für ihn so zentrale Balance war ihm abhandengekommen. Just vor der WM ist er nun aber definitiv wieder unter den Stars der Szene, auch weil er sich nicht mehr aufs Resultat fixierte, sondern in erster Linie auf Spass und Technik. Die Idee dahinter ist simpel: Stimmen Freude und Fertigkeit, folgen die Resultate von alleine. Die Routine sei ihm
hier zugutegekommen, meint er. «Das ist für einmal der Zenhäusern im Eilzugstempo gewesen, wo ich doch ansonsten immer kleine Schritte mache. Auch mit einem gesunden Körper ist so eine rasche Rückkehr aber keine Selbstverständlichkeit.» Der Zeitpunkt könnte nicht idealer gewählt sein, der WMSlalom in Courchevel-Méribel findet am 19. Februar statt. Zenhäusern wird es diese Woche erst mal gemütlich nehmen, etwas Langlauf oder Riesenslalom als Abwechslung («mehr eine Therapie»), dann wird sich das Team ein paar Tage ins Slalomtraining begeben, wo, steht noch nicht fest. Es könnte wie vor dem Rennen in Chamonix wiederum Champex-Lac im Unterwallis sein. Das exzellente Ergebnis des Oberwallisers gerade in Chamonix erstaunt nicht. Zenhäusern kam in diesem Winter immer
besser in Form, gleichzeitig wuchsen sein Vertrauen und die Courage, er wurde zuletzt in Schladming vor 40’000 Fans Zweiter. Und er liebt die Strecke in Chamonix ganz besonders, hier wurde er 2021 bereits zweimal Zweiter. Jetzt hat es endlich gereicht für den ganz grossen Coup. Man muss wissen, dass die
Geländeform, die Schneebeschaffenheit und auch die Kurssetzung einen grossen Einfluss
auf einen Slalomfahrer ausüben können. Deshalb ist das viel zitierte Set-up, also die jeweils perfekte Abstimmung von Ski, Bindung und Schuh, von zentraler Bedeutung, weil es viele Varianten gibt, auch wenn Zenhäusern kein Tüftler ist wie beispielsweise Yule. Er ist einem einzigen Skimodell treu,
er verfolgt vielmehr das Motto: keep it simple. Der aktuelle Erfolg Zenhäuserns
ist demnach auch der Zusammenarbeit mit dem Servicemann geschuldet. Philippe Petitjean, sein neuer Servicemann, stand jahrelang im Dienst von Henrik Kristoffersen, nun arbeitet er für den Oberwalliser. «Er lenkt und führt mich», sagt Zenhäusern und spricht die grosse Erfahrung von Petitjean an (Red. über
30 Jahre bei Rossignol).
Slalomtrainer Matteo Joris: «Er ist ein Phänomen»
Zenhäusern sagt heute zwar, er könne auf allen Unterlagen schnell sein, auch wenn ein pfeifengerader Lauf auf eisiger Unterlage seine grösste Herausforderung bleibt. Chamonix hingegen kam ihm besonders entgegen. Der nicht so steile Hang verlangte von den Athleten permanente Bewegung und Beschleunigung. Hier verfügt Zenhäusern über aussergewöhnliche Qualitäten. Matteo Joris, der italienische Cheftrainer der Schweizer Slalomfahrer, meinte dazu gegenüber dem «Walliser Boten»:
«In diesem Bereich ist Zenhäusern aufgrund seiner grossen Hebel ein Phänomen.» Wer Zenhäusern zuschaut, bekommt oft das Gefühl, er sei langsamer unterwegs als die Konkurrenz. Das täuscht aber, wenn man bloss auf seinen langen Körper mit den tief liegenden Armen schaut. Blickt man nämlich auf
seine Füsse und Ski, dann erkennt man das Tempo. Im Grundsatz gilt: Je langweiliger der Grossgewachsene in seinen Bewegungen erscheint, desto schneller ist er, flattert und fuchtelt er oben, hat
er ein Problem. Deshalb ist seine Maxime: oben träge, unten flink. Zenhäusern gewann im letzten Rennen vor der WM mit grossem Vorsprung – 1,02 Sekunden vor dem sensationellen AJ Ginnis und 1,06 Sekunden vor Daniel Yule. Die Freude der vielen Walliser Zuschauer in Chamonix war umso grösser, weil Yule seinen dritten Rang aus dem ersten Lauf halten konnte.
Was auch noch auffiel: Der griechisch-US-amerikanische Doppelbürger Ginnis, der erste Grieche auf einem Weltcuppodest, hatte 21 (!) Plätze gutgemacht. Der Fahrer mit der hohen Startnummer 45 war im zweiten Lauf schneller als alle anderen, also auch schneller als der ausgezeichnete Zenhäusern. Ginnis ist zwar in Griechenland geboren und startet auch für das Land seines Vaters (Red. Mutter ist US-Amerikanerin), er lebte aber lange in Österreich und lernte in den USA Skirennfahren.
Zenhäusern verbringt seine Juli-Ferien mit seiner Familie seit Jahren jeweils in Griechenland.
Dass er einmal mit einem Griechen auf einem Slalompodest stehen würde, hätte er nie gedacht,
meint er. Und lacht dabei wieder über das ganze Gesicht.
Die bisherigen drei Siege Zenhäuserns
Chamonix (Fra), 4. Februar
2023: 1. Ramon Zenhäusern. 2. AJ
Ginnis +1,02. 3. Daniel Yule +1,06
Zenhäusern ist nach einem Winter zum Vergessen als Nummer 25 in die neue Saison gestartet. Mittlerweile ist er die Nummer 4 – hinter dem verletzten Lucas Braathen (No), Daniel Yule und Henrik Kristoffersen (No). Die Plätze 14, 21, 12, 8, 9, 7, 2 und 1 veranschaulichen seinen Steigerungslauf über die letzten Monate.
Alta Badia (Ita), 21. Dezember
2020: 1. Ramon Zenhäusern. 2.
Manuel Feller (Ö) +0,08. 3. Marco Schwarz (Ö) +0,12
Zehn Monate hatte Zenhäusern keinen rennmässigen Einsatz mehr gehabt, und dann
schlug er zu. In Italien war er vom achten auf den ersten Platz vorgestossen. «Ich hatte alles gegeben», sagt Zenhäusern. Möglich machte das auch, weil die eher flache und regelmässige Topografie sein Spielplatz schlechthin ist. Dass er der Favorit war, hatten alle Trainer so gesehen.
Kranjska Gora (Slo), 10. März
2019: 1. Ramon Zenhäusern. 2.
Henrik Kristoffersen (No) +1,15. 3. Marcel Hirscher (Ö) +1,17
Zenhäusern stand bei seinem ersten Weltcupsieg in einem Spezialslalom mit Marcel Hirscher auf dem Podest, dem Star der Szene. «Das war eine riesige Ehre, kaum zu beschreiben. Es war immer mal mein Traum gewesen, Hirscher bei regulären Verhältnissen, also auch ohne Ausfälle, zu schlagen. Die Bedeutung jenes Rennens war immens für meine Karriere.»
Roman Lareida/ wb 6.2.2023