Wintermärchen
Ramon Zenhäusern, Sie haben
zahlreiche Interviews und
Ehrungen hinter sich. Was
sind Ihre tiefsten Gedanken?
«Ich bin unendlich dankbar.»
Dankbar wofür in erster
Linie?
«Für diese Olympia-Silbermedaille
habe ich sehr hart arbeiten müssen.
Es gab viele Hindernisse und
schwierigeMomente.Aber ichhabe
Menschen um mich, die an mich
undmeine Fähigkeitengeglaubthaben.
Damit alles klappt, braucht es
ein Riesenpuzzle. Was im Hintergrund
abläuft, bleibt dem Publikum
weitgehend verborgen.»
Was bleibt von der Siegerehrung?
«Ich fand es schön, dass mir Bernhard Russi das Geschenk überreicht
hatte. Er ist eine Legende, ein Idol.
Dass ich das so empfand, habe ich
ihm dann auch gesagt während der
Zeremonie.»
Für nicht wenige ist Ihr VizeOlympiatitel
eine Sensation.
Und für Sie?
«Ich weiss schon, wie das von aussen
aussieht. Wenn man davon ausgeht,
dass ein Dutzend Fahrer für
eine Medaille infrage kommen,
dann fühlt es sich in einem Hundertstel-Krimi
im ersten Moment
auch für mich als Sensation an. Sobald
man wahrnimmt, dass in diesem
Riesenpuzzle wirklich alles
aufgeht, ist das halt schon ein überwältigendes,
ja, ein sensationelles
Gefühl. Irgendwie ist es surreal.
Letztlich aber ist es das eben nicht.
Ich selber spüre bereits seit drei,
vier Jahren, dass es möglich ist. Für
LeutewiemeineTrainer oderTeamkollegen
ist das keine Sensation. In
unserem Team wussten alle, was
ich kann. Ich fuhr in den Trainings
seit Jahren eine Bestzeit nach der
anderen, und das gegen Topfahrer
wie Daniel Yule oder Luca Aerni.
Endlich kann ich das umsetzen,
was ich wirklich draufhabe.»
Hat es in erster Linie mit der
Erfahrung zu tun, dass Sie
in dieser Saison förmlich
explodiert sind?
«Erfahrung ist ein Teil des Puzzles,
der zwangsläufig Zeit in Anspruch
nimmt. Ich wurde immer besser in
den letzten Jahren, Schritt für
Schritt. Fast wie auf leisen Sohlen,
aber immer vorwärts. Und jetzt bin
ich einfach reif für die Spitze. Mentalwar
ichimmer schonstark.Aber
als mit Victor Muffat-Jeandet der
Dritte aus dem ersten Lauf unterwegs
war, konnte auch ich in der
Leaderbox nicht mehr hinsehen.
Ich schaute nur noch an die Wand.»
Sie arbeiten neu mit einem
Sportpsychologen zusammen.
Weshalb?
«Ich bin ein Mensch, der alles um
sich herum wahrnimmt. Ich habe
mich früher zu stark von zu vielen
Faktoren beeinflussen und einschüchtern
lassen. Der Grund: Ich
tendiere zum überlegen und herumstudieren.
Ich bin halt keine
Wildsau wie beispielsweise Justin
Murisier, der rausgeht und sich
sagt: ‹Mal schauen!›»
Was gab der Sportpsychologe
Ihnen denn im Olympiajahr?
«Ich möchte das nicht gross hinausposaunen.
Nur so viel: Am 22. Februar
2018 war der Olympia-Slalom,
ich bin zwei Meter gross und werde
nun Zweiter. Eine unglaubliche Geschichte,
mit der wir gearbeitet hatten.
Ein Wintermärchen.»
Hat der Beizug eines Mentalcoaches
also allein mit den
Winterspielen zu tun?
«Nein, nicht unbedingt. Klar ist
Olympia-Silber eine grosse Sache.
Es gibt aber Sportarten, in denen
hat Olympia eine viel grössere Bedeutung
als im Skirennsport. Ich
meine, ein Weltcupsieg oder ein Erfolg
in Kitzbühel oder Schladming
oder in der Schweiz ist ja auch eine
gewaltige Sache. Es war einfach
Zeit, in diesem Bereich auch einen
Schritt zu machen. Zum Beispiel in
der Vorbereitung aufs Rennen haben
wir viel getan. Auch kann ich
zwischen den Läufen viel besser
runterfahren, damit ich nicht zu
viel Energie verpulvere.»
Inwiefern kam es Ihnen entgegen,
dass das Slalomteam im
letzten Winter bloss für zwei
FIS-Rennen auf dem Olympiahang
nach Südkorea flog?
«Da hatte Swiss Ski Geld in die
Hand genommen, und es hat sich
für mich sehr gelohnt. Auch damals
logierten wir in unserem
Olympia-Hotel nahe der Piste,
auch wenn das Zimmer 400 Euro
oder so was kostet. Ich bin nach
dem letztjährigen Weltcupfinal
am Montag nach Südkorea geflogen
und war am Freitag schon wieder
zurück; und das für zwei FISRennen.
Auch Aerni, Yule und Murisier
sowie Reto Schmidiger, dazu
die beiden Trainer Matteo Joris
und Thierry Meynet und ein Servicemann
waren dabei. Ansonsten
waren bloss Koreaner da und die
Slowakin Petra Vlhova. Ich fühlte
mich nicht vonAnfang an wohl auf
dieser Strecke und auf diesem
Schnee. Die Pistenverhältnisse sagten
mir nicht von vorneherein zu.»
Was dachten Sie damals, wie
das rauskommen wird?
«Damals hatte ich noch nicht gedacht,
dass dieser Hang etwas für
mich sein könnte. Vor dem 2. Lauf
dachte ich aber: Die Ausgangslage
ist nach dem neunten Platz im ersten
Lauf gut, ich bin in Form, der
Lauf dreht schön, kein Riesentempo,
keine Hasenecken, was mir zusagt,
das kann meine Chance sein.»
Ihnen wurden Stärken im
Flachen nachgesagt. Dabei
war der obere Teil steil. Ist
Zenhäusern mittlerweile ein
kompletter Slalomfahrer?
«Also wer nur im Flachen stark ist,
gewinnt keine Silbermedaille. Ich
habemit demsechstenPlatz inKitzbühel
bewiesen, dass ich jetzt auch
bestehen kann, wenn man voll runterstechen
und ‹Eier› haben muss.
So etwas Pfeifengeradeshatte icheigentlich
nie besonders gerne. Ich
bin oft viel zu schön und zu rund
gefahren. Klar habe ich gerne,
wenn ich Radien fahren kann. Aber
in Kitzbühel etwa habe ich den
‹Bungee-Jumping-Test› auf Skiern
bestanden.»
Es ist jetzt Mitternacht bei
Ihnen. Gehen Sie schlafen oder
wieder ins Swiss House?
«Jetzt gehe ich ins Bett, es war sehr
viel los. Ich habe noch nie so vielen
Menschen die Hände geschüttelt.
Morgen um 10.00 Uhr bin ich bereits
wieder im Training.»
Wohin kommt die Medaille?
«Zu den Geschenken. Nein, sie
kommt unters Kissen. Vielleicht ist
es dann aber zu hart.»
Ramon Zenhäusern, woher
stammt eigentlich die
Schramme an Ihrem Kopf?
«Ich habe ihn an der Hinweistafel
‹Notausgang› im Hotel angeschlagen.
Nicht einmal, sondern zweimal.Wie
kannmannur so blöd sein
und zweimal an der gleichen Stelle
das gleiche Problem haben?»
Interview: Roman Lareida